Ein Gespräch mit dem Fotografen Ballhause von Hannes Schmidt
Walter Ballhause, 1911 in Hameln an der Weser geboren, begeht im kommenden Jahr seinen 75. Geburtstag. Anfang der 70er Jahre wurde er "wiederentdeckt". An der Schwelle von Weimarer Republik und Hitlerdiktatur hatte eher als Neunzehnjähriger u.a. das Übergreifen der braunen Horde dokumentiert. Ballhauses Bildbände erscheinen in beiden Teilen Deutschlands.
Wer heute zu ihm gelangen will, muss sich ganz in den Süden der DDR begeben. Nur eine Autostunde von der Grenze zu Bayern entfernt, wohnt er hier am Rande der vogtländischen Kreisstadt Plauen. Von der Haltestelle der Straßenbahn ist es nicht weit zu ihm. Ich überquere einen Lagerplatz des Betriebes, in dem er Jahre lang verantwortlich tätig war, ordentlich gestapelte Stahlrohre und T-Träger, und gelange auf eine Landstraße. Ein warmer Julitag. Rechts die Senken und Wölbungen des kleinen Berglandes, Wiesen und Felder in den verschiedenen Schattierungen des Grün und links, hinter mächtigen Flieder- und Haselnusssträuchern, stattliche Einfamilienhäuser. Dann, die Straße fällt ab, die Häuser stehen dichter, eine Art Werkssiedlung. Hier ist Walter Ballhause mit seiner Frau zu Hause.
Konzentriert und wach sitzt er mir bei unserem mehrstündigen Gespräch gegenüber. Klar der Blick aus dem dunklen Augen unter buschigen Brauen. Kräftig die gebräunten Arme. Hände, die zupacken können, nicht nur eine Kamera zu halten vermögen. Den Nazis ist er mit dem Leben davon gekommen – durch Zufall. Er hat es genutzt, um teilzuhaben an der Ausrottung faschistischen Gedankenguts, am Aufbau des Neuen, als Bürgermeister und Gießereileiter, weithin gerühmter Techniker.
Ein exemplarisches Leben – eine erstaunliche Verknüpfung, von Talent, Schicksalsschlägen und Kunstfähigkeit. Vieles ist nur zu ahnen. "Diese Bilder, die sie so mögen", sagt er irgendwann am Ende unseres Gesprächs bescheiden, "sind nur nebenbei entstanden. Ich wollte mir damit kein Denkmal setzen." H. S.
Aus dem, was ich über Sie, Walter Ballhause, gehört und gelesen habe, konnte ich entnehmen, dass Sie erst 1929 anfingen zu fotografieren …
W. B.: Nein, ich habe bereits mit 15 Jahren angefangen zu fotografieren, mit einer auf Abzahlung erworbenen 9 x 12-Plattenkamera. Das waren in erster Linie Gruppen- und Erinnerungsaufnahmen des Milieus in dem ich mich damals bewegte.
Entstand der Wunsch zu fotografieren spontan?
W. B.: Das hing mit meiner leidenschaftlichen Kinogängerei zusammen. Wenn ich mal ein paar Pfennige hatte, bin ich gern ins Kino gegangen. Die laufenden Bilder haben mich von Anfang an fasziniert – es handelte sich ja um die festgehaltene, geronnene Zeit. Abenteuerfilme begeisterten mich am meisten, zum Beispiel die mit Harry Piel dessen Heldentum mir sehr imponierte. Als ich nach der Schulentlassung Hilfsarbeiter wurde und ein bisschen mehr verdiente, besuchte ich manchmal zwei Vorstellungen des gleichen Films. Das Filme sehen erweckte in mir den Wunsch, selbst einmal hinter einer Filmkamera zu stehen. Doch dann kam alles anders, als ich es mir ausmalte.
Sie stammen aus einer Arbeiterfamilie, Sohn eines Schumachers und einer Lederstepperin …
W. B.: Ich war das jüngste von fünf Geschwistern, also kein Wunschkind. Durch die Zerrüttung der Ehe meiner Eltern ist unsere gesamte Familie zerrissen und in alle Winde zerstreut worden. Mutter wurde durch die schwere Arbeit, die sie verrichten musste, um uns Kinder zu ernähren und großzuziehen, gesundheitlich schwer geschädigt. Außerdem hatte sie immer wieder vor Augen, ihre Klasse als angelernte Arbeiterin, Lederstepperin, zu verlassen und nach oben zu gelangen. Erst mit Hilfe ihres tüchtigen Mannes, das ging schief, und anschließend alleine, auch das blieb erfolglos. So war sie seelisch und moralisch irgendwie gebrochen, auch viel krank, was sich natürlich auf den Kontakt mit uns auswirkte.
Nach der Scheidung der Ehe meiner Eltern begann ein ruheloses Wanderleben mit meiner Mutter. In acht Jahren wechselte ich acht Mal die Schule. Insgesamt bin ich in 22 Jahren elf Mal umgezogen. Sie können sich vorstellen, dass ich nirgendwo heimisch wurde, dass ich ein Gefühl der Liebe und Geborgenheit nicht kennenlernte.
Mit acht Jahren kam der Umzug mit der Mutter nach Hannover. Sie wandten sich früh der Arbeiterbewegung zu, wurden Mitglied der sozialdemokratischen Jugendgruppe "Rote Falken" und Mitglied des Arbeiter-Turn- und Sportbundes (ATSB). Welchen Einfluss hatte das auf Sie, wer beeindruckte Sie?
W. B.: Mit dem, was wir in der Schule vermittelt bekamen, konnten wir nicht viel anfangen. Ich hatte begonnen, zu lesen und über unsere Welt nachzudenken, mich mit ihren Widersprüchen auseinanderzusetzen. Im Herbst 1925, mit vierzehneinhalb Jahren, war ich zufällig einmal bei einem Trainingsabend der "Freien Schwimmer Hannover", sozusagen die Sektion Schwimmsport des dortigen Arbeiter-Turn- und Sportbundes. Da ich gut schwamm, sprach man mich an, und ich wurde Mitglied. Innerhalb dieser Gruppe gab es sehr begabte und weniger begabte Schwimmer. Die sehr begabten, zu denen auch ich bald gehörte, wurden von einem drei bis vier Jahre älteren, jungen Sozialisten, Otto Fuhrmann, betreut. Otto kam als Arbeitsloser aus Berlin-Neukölln zu uns nach Hannover. Er hat uns nicht nur trainiert, sondern faktisch als "Rote-Falken-Gruppe" um sich geschart. Er war ein wunderbarer Mensch, vielseitig, auch musisch begabt, pädagogisch talentiert. Mit ihm verbrachten wir Jungen und Mädchen einen großen Teil unserer Freizeit, sind wandern gegangen. Otto machte uns mit sozialistischem Gedankengut, Büchern und Schriften bekannt, er hat meine Entwicklung in diesen Jahren wesentlich beeinflusst, ihm habe ich viel zu verdanken. Als er 1931 wieder zurück nach Berlin ging, hatten wir uns schon ziemlich weit entwickelt.
Dass sie später zu ernsthaften Fotografie überwechselten, hat auch mit ihrer Freundschaft zu Lina Lengefeld zu tun, würden Sie darüber etwas erzählen?
W. B.: 1928, als ich schon bei den Jungsozialisten war, lernte ich die sieben Jahre ältere Lina Lengefeld kennen. Lina arbeitete als Angestellte des Ortsvereins der SPD in Hannover. Sie wohnte bei ihren Eltern, hatte ein eigenes Zimmer und so war ich öfters bei ihr. Durch meine Kontakte zu den Jungsozialisten hoffte ich mehr Auskünfte zu bekommen über die Ungerechtigkeit und Widersprüchlichkeit der Welt und die Ursachen dafür. Ich hatte schon einiges gelesen, aber auch noch viel nachzuholen. Da ich selbst keine Bücher besaß, habe ich in den fünf Jahren, die wir bis 1933 zusammen waren, Gebrauch davon gemacht, ihre Bücher zu lesen. Sie hatte sie sich über die Büchergilde Gutenberg angeschafft. Darunter waren viele die sich zu lesen lohnte, von Jack London über B. Traven bis zu Erich Maria Remarque und Anatole France.
Einen besonderen Einfluss auf Ihren weiteren Weg hatte Erich Knaufs "Empörung und Gestaltung".
W. B.: Erich Knauf war Redakteur der sozialdemokratischen Plauener Volkszeitung und später der Büchergilde Gutenberg. Sein Buch erschien 1928. Ich muss es 1929/30 gelesen haben. Mit seinen wunderbaren, klaren Aufsätzen über Maler und Grafiker hat es mich wesentlich in meiner Absicht bestärkt, selbst zur Kamera zu greifen. Das waren Künstler, die den Proletariat sehr nahe standen, sein Elend kannten. Da ging es mir durch den Kopf: Studieren kannst du nicht, um Maler zu werden, dazu reicht dein Geld nicht, aber fotografieren kannst du.
Gab es darüber hinaus für Sie anderweitige Anregungen, Bezugspunkte, Vorbilder?
W. B.: Ich hatte keinerlei Verbindung zu Malern oder Berufsfotografen. Aber das was die gemalt oder fotografiert haben, immer eine Handbreit über der Wirklichkeit, das war mir bekannt, das war meine Wirklichkeit, die ich täglich um mich herum hatte. Natürlich beschäftigte ich mich intensiv mit Werken der bildenden Kunst und der Fotografie. Bevor ich fotografierte, studierte ich andere Bilder, die mich beeindruckt hatten, mich interessierte sowohl ihre Wirkung, also vom Inhalt her, als auch ihre Art der Darstellung. Gemälde, Fotos, Aushänge, Reklame, Illustrierten- und Zeitungsaufnahmen, das waren meine Universitäten.
Bevor wir auf Ihre Fotos zu sprechen kommen, noch eine andere Frage. Ich habe gelesen, dass Sie mit Otto Brenner befreundet waren?
W. B.: Otto war Metallarbeiter in der Hanomag, bei der ich ab 1925 als Laborant in die Lehre ging. Er war etwa sechs bis acht Jahre älter, ein sehr belesener Jungsozialist. Ich lernte ihn bei Vorträgen im Gewerkschaftshaus kennen. Später begründete er sachlich-leidenschaftlich seinen Austritt aus der SPD und gründete in Berlin und Hannover die SAP, die "Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands". Ich war seit 1929 Mitglied der SPD, trat aus ihr aus, wurde 1931 ebenfalls Mitglied der SAP. Ich habe Otto Brenner als einen sehr bescheidenen, toleranten, integren Freund und Genossen in Erinnerung, der ebenfalls wichtig für mich war. In der Zeit des Faschismus verloren wir den Kontakt zueinander.
Zurück zu Lina Lengefeld und Ihrer Absicht, ernsthaft zu fotografieren.
W. B.: Lina hatte damals noch ein verhältnismäßig gutes Einkommen, während ich inzwischen arbeitslos war. Damals kamen gerade die Leica und andere Kleinbildkameras auf. So habe ich sie bewogen, da ich selbst nicht das Geld dazu hatte, eine Leica und einen Vergrößerungsapparat zu kaufen. Sie hat mir dann beides leihweise zur Verfügung gestellt. Die Anschaffung der Leica war eine ganz bewusste Angelegenheit. Ich wollte einen Fotoapparat, den ich unbesehen handhaben konnte. Weil die Leica klein war und ich sie ohne weiteres in meinen Händen verschwinden lassen konnte, schien sie mir besonders geeignet, mit ihr eine bestimmte Art von Fotos zu machen.
Als Sie 1929/30 anfingen, mit der Leica zu fotografieren, waren Sie 19 Jahre alt. In einem Zeitraum von reichlich drei Jahren entstanden bis April 1933 etwa 500 Fotografien. Wie erklären Sie sich aus heutiger Sicht diese frühe Reife? Wie war es möglich, dass ein Arbeiterjunge, scheinbar aus dem Stand heraus, Fotos machte, die zu den bedeutendsten Dokumenten der Zeit zählen?
W. B.: Wenn ich zurückblicke und sehe mir meine Aufnahmen von damals an, dann muss ich zugeben, dass schon eine gewisse Reife dazu gehörte, solche Fotografien zu machen. Aber vielleicht erklärt sich das andererseits auch ganz einfach: Mir ging es genauso wie Millionen anderer Arbeiterkinder, vielleicht noch ein klein wenig schlechter. 1918 war ich sieben Jahre alt, da hatte ich durch den ersten Weltkrieg schon viel gesehen und erfahren. Diese Kindheitserinnerungen standen dann Pate für meine ersten Fotos, die ich um 1930 z. B. von den Krüppeln des ersten Weltkrieges machte. Ich sehe in ihnen vor allem eine Widerspiegelung meiner frühen Kindheitserlebnisse. Zwischen 1916 und 1918, mit fünf bis sieben Jahren, erlebte ich, wenn die Verwundeten am nahegelegenen Güterbahnhof von der Front eintrafen und an unserem Haus auf Tragbahren vorbeigetragen wurden. Ich hatte Kontakt mit Kriegsgefangenen aus England und Frankreich, die in der Schuhfabrik, in der mein Vater tätig war, arbeiteten. Ich besuchte sie heimlich in ihren Unterkünften und erfuhr viel von ihnen. Ich sah, wie mein Vater mit der gesamten Belegschaft der Fabrik durch das Werktor unter roten Fahnen auf die Straße marschierte. Also der Krieg, Ausgehverbote, Demonstrationen, Unruhen, Schüsse in der Nacht, die miserable Ernährungssituation – ich hatte viel gesehen und erfahren müssen.
Irgendwann entschieden Sie sich, mit versteckter Kamera zu arbeiten. Wie kam es dazu?
W. B.: Ich sagte schon, dass die Anschaffung der Leica eine ganz bewusste Angelegenheit war. Ich konnte sie in meinen Händen verstecken. Außerdem besaß ich eine linksseitig geknöpfte Windjacke, aus der ich sie nur zum Gebrauch herausnahm und schnell wieder verschwinden ließ. So sind alle meine entscheidenden Fotos entstanden. Wesentlich war: Ich begegnete den Menschen in ihrer tiefsten Not und Entwürdigung, physisch und psychisch aufs äußerste ermüdet. Hätte ich mich ihnen da mit drei umgehängten Kameras nähern können? Dazu kommt, dass sich Menschen generell, richtet man eine Kamera auf sie, anders benehmen als üblich. Ich wollte ihre Gesichter und ihre Verhaltensweisen zeigen, so wie sie sind, nicht, wie sie es selbst gern gehabt hätten.
Aber ich möchte noch etwas sagen zu der Phase, bevor man auf den Auslöser drückt. ln den reichlich drei Jahren, die mir bis zur Machtergreifung der Nazis zum Fotografieren blieben, versuchte ich zu realisieren, was mich interessierte. Nicht etwa, wie man heute sagen würde, um es zu vermarkten. Wie meine Kameraden und Genossen in der Jugendbewegung, später in der SPD und in der SAP, wollte ich meiner Klasse, meinem Milieu dienlich sein, den Arbeitern die Augen öffnen: "Hier, nehmt das Elend nicht länger hin, wehrt euch!" Wichtig schien mir, Menschen anzuregen, sie zu aktivieren, von diesen entwürdigenden Verhältnissen wegzukommen. Im Sinne des berühmten Satzes von Marx war ich aufrichtig darauf aus, mit meinen Fotos die Welt zu verändern und aufklärend zu wirken.
Meine Fotos über den aufkommenden Faschismus konnten auch deshalb entstehen, weil wir uns bei den Jungsozialisten eingehend mit der Gefahr des Faschismus auseinandersetzten. So kann ich mich an eine Referentin erinnern, die uns ihre Erfahrungen des italienischen Faschismus, der bereits seit Mitte der 20er Jahre an der Macht war, vermittelte. Wir ahnten nach ihren Ausführungen, was auf uns zukommen würde. Doch später hatte die SAP nicht den Einfluss, öffentlich wirksam zu werden, obwohl sie z. B. in Hannover nach Aktionseinheit mit der KPD strebte. Um treffsichere Fotos des sich entwickelnden deutschen Faschismus machen zu können, bedurfte es nicht nur bestimmter Erfahrungen und Erlebnisse, eines Klasseninstinktes und ausgeprägter Emotionalität, sondern vor allem des Wissens über die sozialen, politischen und ökonomischen Zusammenhänge. Die hatten wir vermittelt bekommen. Ich bin also nicht unvorbereitet an diese Aufnahmen gegangen. Ich verspürte den inneren Auftrag meiner Klasse, und gleichzeitig machte ich diese Fotos auch für mich ganz persönlich. Das ist kein Widerspruch.
Das Ende der Weimarer Republik fiel mit der Trennung von Ihrer langjährigen Freundin Lina Lengefeld zusammen.
W. B.: Schon wegen des Altersunterschieds hatten wir nie die Absicht zu heiraten. Nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren, hat sich unser Leben ganz erheblich verändert. Mit dem 30. Januar 1933 wurde das Leben praktisch für uns inhaltslos. Meine Partei, die SAP, löste sich schon Ende 1932 auf. Als kleine Partei war sie außerstande, das Geschehen zu beeinflussen, geschweige denn aufzuhalten. Nach der Machtübernahme der Faschisten wurde unser Schwimmverein aufgelöst, die Badeanstalten beschlagnahmt. Das Gewerkschaftshaus in Hannover ging an die SA über. Wir hatten keine Partei mehr, keinen Verein, keine Gewerkschaft, wurden in unserer kulturellen und sportlichen Betätigung behindert, das Leben wurde für uns eintönig und gesellschaftspolitisch beinahe sinnlos. Es begann eine Zeit völliger gesellschaftlicher Inaktivität. Wir waren nur noch Beobachter, wir hatten keine Aufgaben mehr, konnten nichts mehr tun. Wir blieben Antifaschisten.
Nach einem, in jeder Hinsicht, ganz intensiv gelebten Leben trennte ich mich von Lina Lengefeld. Wir waren jung und mochten uns, wir hatten zusammen Sport getrieben, uns politisch betätigt, unsere Kenntnisse über die Kunst und das gesellschaftliche Leben erweitert. Das war die schönste und interessanteste Zeit meines Lebens. Sie hat die tiefsten Spuren in mir hinterlassen, mich wesentlich geprägt.
Ich habe Lina die Kamera zurückgegeben und wir sind im guten auseinandergegangen. Der Zufall wollte es, dass ich 1934 meine spätere Frau näher kennenlernte, 1935 haben wir uns eine gebrauchte Leica gekauft.
Mussten Sie dann gleich mit dem Fotografieren aufhören?
W. B.: Um 1930 hatte ich erste Erfolge mit meinen Fotos, ich beteiligte mich an einer Fotoausstellung, und sie wurden auch gedruckt, in Österreich z. B. 1932. Die zunächst letzten Aufnahmen machte ich zu "Führers Geburtstag" am 20. April. Da lagen der Reichstagsbrand und die Verhaftung der führenden Funktionäre der Arbeiterparteien schon hinter uns. Danach wurde die Verfolgung ausgeweitet, und im Juni 1933 war auch ich dran.
Wie kam es zu Ihrer Verhaftung?
W. B.: Als Arbeitsloser half ich hin und wieder in einem Fotolabor in Hannover aus, auch Pfingsten 1933. Dort hatte ich meine Negative vom Überfall auf das Gewerkschaftshaus versteckt. Einem Kollegen gegenüber, von dem ich annahm, dass er kein Nazi sei, hatte ich erzählt, dass ich den Überfall fotografierte. Er hat mich verraten. Die Gestapo holte mich aus dem Geschäft, zu Hause haben sie die ganze Bude auf den Kopf gestellt. Außer ein paar attraktiven Landschaftsaufnahmen und ähnlichem konnten sie nichts finden . So nahmen sie mich mit, ließen mich im eigenen Saft schmoren und verhörten mich. Misshandelt wurde ich nicht, denn sie wollten mich für ihre Zwecke gewinnen. Sie wussten, dass ich ein guter Fotograf bin, und das gab den Ausschlag bei der Vernehmung. Zufällig war der mich Vernehmende nur wenig älter, ich kannte ihn, konnte an Gemeinsamkeiten anknüpfen, auf seine Fragen mit Gegenfragen antworten, und so wurde es fast ein Streitgespräch. Am Schluss hieß es: "Sie melden sich morgen beim Gaufachschaftswart Dietrich im Gewerkschaftshaus!" Der war wahrscheinlich für Kulturfragen zuständig. Nach dem Verhör bei der Gestapo verbrachte ich zu Hause noch einmal eine schlaflose Nacht. Ich war ganz unentschieden, wie sollte ich mich verhalten? Sollte ich knieweich werden und bei denen mitmachen? So stand die Frage für mich. Wie sollte ich aus der Klemme herauskommen, ohne mich in den Dienst der Nazis stellen zu müssen? Das ist eben der Unterschied: Wenn ich Exilant bin, bin ich über die Grenzen hinweg aus Deutschland weg. Wenn ich Immigrant bin, bleibe ich drin. Darüber gibt es noch kein Buch, was über die geschrieben worden ist.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dass ich am nächsten Tag unentschlossen zur Gauleitung gegangen bin. Aber ich hatte ein Riesenglück: Der Mann war an dem Tag nicht da. Da habe ich mir gesagt: "Wenn sie jetzt noch was von dir wollen, dann müssen sie dich holen, von alleine gehst du nicht wieder hin."
Bei alledem ahnten die Nazis nicht, dass ich vom Überfall auf das Gewerkschaftshaus sehr schnell einige 9 x 12-Vergrößerungen auf ganz dünnem Papier gemacht hatte, die schon auf dem Postweg unterwegs nach Österreich waren, um die dortigen Genossen zu warnen.
Gab es später ein direktes Verbot für Sie zu fotografieren?
W. B.: Das gab es nicht. 1934 hatte meine Arbeitslosigkeit ein Ende, und ich konnte wieder bei der Hanomag in meiner alten Position als Laborant, Materialprüfer anfangen. Schon als Lehrling und Jungarbeiter hatte ich mir gute fachliche Kenntnisse erworben. Bald wurde auch unser Betrieb für die Rüstung tätig. Von einem Dach aus konnte ich noch heimlich fotografieren, wie alte Hallen weggerissen wurden, die Platz machen mussten für neue, höhere, in denen dann Geschütze zur Fliegerabwehr gebaut wurden.
Da ich nun wieder berufstätig war, wurde das Fotografieren auch für mich zu einer Zeitfrage. Und außerdem: Für wen sollte ich denn in dieser Zeit noch fotografieren? Für die Nazis? Nein, so weit ging mein Interesse nicht! Außerdem wurde ja schließlich wahr, was Hitler gesagt hatte: "Gebt mir ein paar Jahre Zeit, und ich bringe euch die Arbeitslosen von der Straße weg!" Darin bestand der Erfolg ihrer Demagogie. Es wurden laufend weniger Arbeitslose. Scheinbar ging alles in eine wunderbare Blüte über. Es gab ein Fest nach dem anderen. Wegen des vielen schönen Wetters sprach man dann schon vom "Hitlerwetter". Nach außen war alles schön. Es gab keinen größeren Friedensapostel als Hitler. Er sprach vom Frieden, um den Krieg desto besser vorbereiten zu können.
Die Aufnahmen vom Überfall auf das Gewerkschaftshaus hatte ich mit Angst und Bangen gemacht. Damals hatte die Polizei schon Anweisung, allen Fotografierenden, mit Ausnahme natürlich der bekannten Reporter, die Filme bzw. die Kameras wegzunehmen. Das ging dann so weit, dass die Kameras zerschlagen wurden. Bei einer solchen Aktion zu fotografieren, das wäre gleichbedeutend mit der Vernichtung des Apparates gewesen.
Wie verlief Ihr Leben dann weiter?
W. B.: Die Zeit, die ich früher für die politische Bildung und Tätigkeit, für das Fotografieren investiert hatte, nutzte ich nun für meine fachliche Weiterbildung. Ich absolvierte sechs Semester Abendschule mit einem halben Jahr Unterbrechung durch Kriegsbeginn. Fertig wurde ich 1941. 1936 hatte ich meine Frau geheiratet. Kinder wollten wir damals bewusst nicht haben, denn als Antifaschisten wussten wir ja, dass der Krieg auf uns zukommt, dass man die Waffen nicht baute, um sie einzuschrotten, sondern um sie zu gebrauchen, dass es um die Neuaufteilung der Weit ging. Wir wollten keine Kinder, die nur als Kanonenfutter dienen würden. Wir wollten von Hannover weg, denn Hannover wurde praktisch vom ersten Kriegstag an mit Bomben belegt, erst auf die Erdölraffinerie und dann auf die Stadt. Dazu kam, das war ganz wesentlich, dass ich in Hannover, in der Hanomag, laufend beobachtet wurde, der Boden war einfach zu heiß für mich. Ich hoffte auch, dass ich anderswo eine Unabkömmlichkeitsstellung erreichen könnte. Die entsprechende Qualifizierung hatte ich in der Tasche. So studierte ich die Angebote in der Zeitung und die Landkarte. Versuchte eine Stelle auszumachen, wo die Bomben zuletzt fallen. Da bot sich Plauen im Vogtland an. Es lag in der Mitte des damaligen Deutschland. Auf eine schreckliche Weise hat sich dann bewahrheitet, dass Plauen tatsächlich zuletzt dran kam. Bei den Angriffen vom 9. und 10. April 1945 wurde es zu 75 Prozent zerstört.
Vom Rüstungsbetrieb Hanomag kam ich so in den Rüstungsbetrieb Vomag. Hier wurden Panzer gebaut. ln Hannover war ich nur ein kleiner Angestellter, in Plauen war ich als Laborleiter mein eigener Herr und zuständig für die Untersuchung der eingehenden Materialien.
Änderte sich dadurch etwas an Ihrer Einstellung zum Faschismus?
W. B.: Nein, im Gegenteil. Ich habe auch dort die Verbindung zum Widerstand gesucht. Der Verrat durch einen Kollegen im April 1933, das war eine Ohrfeige, die sich mir einprägte. Natürlich war ich sehr vorsichtig bei der Kontaktaufnahme mit gleichgesinnten Menschen. Das war unerhört schwierig. ln Plauen hoffte ich, erst einmal unbekannt zu sein. Es hat aber auch nicht lange gedauert, bis man mich kannte. Die Gestapomethoden waren so raffiniert. Sie hatten Unterstützung in der gesamten Bevölkerung, um solche verräterischen Stimmen , wie ich es eine war, auszumachen. Man darf nicht vergessen, dass fast alle nennenswerten Kräfte des Widerstandes zwischen 1933 und 1945 der Gestapo zum Opfer fielen.
Nach Ihrem Umzug nach Plauen, der 1941 erfolgte, wohnten Sie in dem Dorf Straßberg bei Plauen. Es gibt aus dieser Zeit ein merkwürdiges Dokument, das schließlich auch mit dazu führte, dass Sie den Nazis in wachsendem Maße verdächtig wurden. Es war bei Ausstellungen zu sehen, ich darf es zitieren: "An den Volksgenossen Ballhause, Straßberg. Ich habe Sie als Blockverwalter der NSV eingesetzt. Sie haben das abgelehnt. Die hierfür angeführten Gründe halte ich nicht für stichhaltig, zumal jetzt jeder deutsche Mann das letzte einsetzen muss für den Sieg und stolz sein müsste, mitarbeiten zu dürfen für Führer und Volk. Sie scheinen den Sinn der heutigen Zeit leider noch nicht verstanden zu haben und so mache ich Sie für die Auswirkung ihrer Ablehnung und Weigerung allein verantwortlich. Sie werden weiter hiervon hören. Heil Hitler!" Ein Jahr später, im September 1944, kam es dann zu Ihrer Verhaftung.
W. B.: Wiederum musste ich die Erfahrung einer eindeutigen Denunziation machen. Zunächst wurden wir zu viert, dann zu sechst, wegen "Wehrkraftzersetzung und Verdachts illegaler Betätigung" unter Anklage gestellt. Wir hatten untereinander und nach außen Verbindung gesucht, hatten die Pausen und andere Gelegenheiten benutzt, uns auszutauschen. Auch ging es um Äußerungen, nach denen wir nicht an den Sieg glaubten und den Krieg für ungerecht und ein Verbrechen hielten. Wie Sie wissen, reichte das damals schon aus, um das Leben zu verlieren. Meine Verhaftung wurde ganz raffiniert eingefädelt. Man ging damit nicht in den Betrieb, weil ich dort eine zu bekannte und angesehene Person war. Eines Tages flatterte mir ein Einberufungsbefehl zur Wehrmacht ins Haus, ich glaube zu den Kanonieren, weil ich athletisch gebaut war. Als wir zu einer kleinen Verabschiedung zusammengekommen waren, hält unten ein Auto. Zwei Mann steigen aus, klingeln, kommen rauf, Tür aufmachen, schon ist der Fuß drin, Ausweis, Hausdurchsuchung. Dabei übersah man einen unscheinbaren Pappkarton mit zusammengerollten Negativen, der in der Speisekammer stand. Als sie mich dann mitnahmen und wir wegfuhren, hat meine Frau sofort wegen einer möglichen Nachuntersuchung den Karton im Keller hinter der Kartoffelkiste angebracht. So wurden meine Negative gerettet.
Wie ich weiß, kamen Sie dann in die Untersuchungshaftanstalt auf dem Plauener Amtsberg.
W. B.: Acht Monate war ich drin, bis zum April 1945. Erst in Einzelhaft, dann durfte ich arbeiten. Wir verfertigten Verdunklungsrollos. Ich kam mit dem Leben davon. Durch den Bombenangriff auf Dresden waren meine Akten verbrannt, das Urteil blieb aus. Im Gefängnis haben wir wieder, wo wir konnten, illegale Arbeit geleistet. Als das Plauener Gefängnis zerstört wurde, überführte man uns nach Zwickau, wo ich die Befreiung durch die Amerikaner erlebte.
Wir haben jetzt sehr lange miteinander gesprochen, Sie haben mir einen Einblick in Ihr Leben ermöglicht. Ich weiß, in Ihnen wehrt sich alles dagegen, Ihre Fotos als Kunst zu bezeichnen. Gibt es trotzdem so etwas wie ein Credo, eine wesentliche Erfahrung?
W. B.: Ich glaube, dass man im Leben richtig durchgeprügelt werden muss, um zum richtigen Denken, zu bestimmten Schlussfolgerungen zu kommen. Das gehört einfach dazu. Leben ist Licht und Schatten, Freude und Leid. Was uns prägt, sind die Auseinandersetzungen mit den Widersprüchen.
Die Bilder, die Sie so mögen, sind nur nebenbei entstanden. Ich wollte mir damit kein Denkmal setzen. Es sind ein paar Ritzen in dem großen Lebensbaum, eine Ritze wird vielleicht davon zurückbleiben.
Und was das Credo betrifft, muss ich Ihnen noch einmal sagen: Die Arbeiterfotografen wollten damals von Kunst nichts wissen, sie wollten keine Künstler sein. Aber natürlich kann Fotografie Kunst sein. Ich halte es in dieser Hinsicht mit einer amerikanischen Fotografin und Revolutionärin der 20er Jahre, Tina Modotti, auch einem Arbeiterkind, die einmal sagte: "Immer dann, wenn man die Worte Kunst oder Künstlerin in Bezug auf meine fotografischen Arbeiten verwendet, habe ich ein unangenehmes Gefühl. Sicherlich, weil man diese Begriffe im allgemeinen nicht richtig gebraucht. Ich halte mich für eine Fotografin, für nichts anderes. Und wenn sich meine Fotografien von denen anderer unterscheiden, so deswegen, weil ich nicht versuche, Kunst zu machen. Ich mache gute Fotos, ohne Trick und ohne Manipulation, während die meisten Fotografen immer noch auf künstlerische Effekte aus sind und versuchen, andere grafische Kunstformen zu imitieren. So entstehen hybride Produkte, die alle Eigenschaften haben, nur die nicht, die sie haben sollten, fotografische Qualität."
(Aus der Zeitschrift Medium 11/12.1985, S. 80–84 mit freundlicher Genehmigung vom Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik gGmbH, GEP gGmbH)